Ich war betont langsam, die Oberschenkel spürten noch die Tour nach Scheßlitz. Dennoch gings ganz gut und ich hab mich sehr wohl gefühlt. Alles einsam, nur ein paar Bauern, die im Wald ihr Holz gemacht haben. Nieselregen, grauer Himmel. Lieblingsmusik auf den Ohren.
Nachgedacht über den Lauf nach Scheßlitz und den anstehenden JUNUT im April. Gestern abend über "Motivation" gelesen. Was ist meine Motivation beim Laufen ? - ich frage mich das immer wieder.
- ich bin nicht auf der Flucht vor etwas. Auch nicht auf der Suche. Definitiv laufe ich zu etwas hin anstatt von etwas weg. Vielleicht sind es frühe, unbewußte Kindheitserinnerungen. Ein Punkt tief im Inneren, der durch die Läufe gestreichelt und gepflegt wird.
- es gibt eine Untersuchung im bereich des "Lernens", nach der sich Menschen gelernte Inhalte wesentlich besser merken können, wenn sie beim Lernen in einer Pause ein Bild von Bäumen ansehen. Dazu reicht auch ein Foto, es müssen noch nicht mal echte Bäume sein. Ich finde das phantastisch und unerklärlich. Eine tiefe Verbindung des Menschen zu den Bäumen. Oberhalb von Engelthal steht mitten im Wald eine vereinzelte, sehr alte Eiche. zum Glück hat man den Weg und die Forststrasse an ihr vorbeigeführt. Wenn ich dort vorbeikomme, dann berührt mich dieser Baum immer.
- das Verhältnis von physischer und psychischer Vorbereitung / Training ist bei Läufern etwa 9:1, hab ich gelesen. "Unterschätzt mir die letzten 10% nicht" soll ein Trainer über die mentale Vorbereitung gesagt haben. WERNER SONNTAG meint, nur mit ausgeglichener Psyche könne man eine Ultradistanz laufen. Eine Ultradistanz sei vor allem eine Frage der Psyche und der mentalen Verfassung. Auch da kann ich zustimmen. Ein Lauf ist vor allem eine gute Gelegenheit, über die Baustellen im Inneren nachzudenken und nachzufühlen. Das Laufen erzeugt durch die Bewegung und die Umgebung eine Klarheit. Es legt das Innere frei indem es Hüllen wegschmilzt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerne eine Partnerin hätte, die ebenfalls läuft. Ich genieße es, unterwegs nicht Teil von etwas anderem zu sein, sondern ich selbst. Mit meinen Chancen und Limitationen.
- "ob ich nach dem Laufen süchtig bin ?" - nein. Ich hab oft überlegt, was das Schlimmste wäre, was mir körperlich passieren könnte. Heute dachte ich mir beim Laufen im Wald: "wenn ich nicht mehr sehen könnte, dann würde ich den Wald noch riechen und unter den Füßen spüren. Wenn ich nicht mehr laufen könnte, dann würde ich radfahren. Wenn ich nicht mehr radfahren könnte, dann würde ich im Kanu fahren. Usw". Nein, ich bin nicht nach dem Laufen süchtig. Aber Laufen ist für mich mehr und mehr eine Art zu sein. In letzter Zeit eine stark ganzheitliche Art und Weise. Laufen ist nur ein Fuß vor den anderen setzen und dennoch ist es so viel mehr.
- im Grunde scheue ich Auseinandersetzungen. Bei Distanzen über 42km kommen diese aber automatisch bei mir. Ich kann noch so gerne Laufen, aber wenn mir die Beine weh tun und der Blick zum Horizont fragt "wie weit denn noch ?", dann wird es "lästig" und "schwer". In letzter Zeit finde ich aber genau diesen Punkt interessant, so wie vorgestern. Es ist, ähnlich wie in den Bergen in der "Ausgesetztheit" einer Tour, eine Situation, die keine Flucht erlaubt. An dem Punkt, wo ich nicht mehr mag, da bin nur ich und sonst nichts. Es kommt der Wunsch nach "einem Sofa" auf, nach "Beine hochlegen" und einer "heißen Badewanne". Meistens stehe ich ja an so einem Punkt (sonst wäre es nicht der vorläufige "Endpunkt" und Marker der Krise), schaue um mich und sehe: nichts. Außer der Umgebung natürlich. Keine Fee, keine "drei Wünsche frei", und zum Glück niemand, der mir eine Entscheidung abnimmt, was jetzt zu tun sei. ICH muss es mit MIR selbst ausmachen. Ich muss den Tiefpunkt überwinden, körperlich und mental. Und erst, weil er "ausgesetzt ist" wird das auch möglich. Wäre eine schnelle Lösung möglich, dann wäre es eine ganz andere Qualität von Krise und Lösung. So aber trifft es genau den Punkt, um den es geht: "hopp oder top", "vorwärts oder rückwärts", "stehen oder laufen". Mehr gibt es nicht.
- Ähnlich, wie man den Reiz der Biwaknacht im Wald nicht nachvollziehen kann, wenn man es nicht selbst tut, kann man nicht nachvollziehen, was an diesen Grenzen sein soll. Und vor allem: wozu das Ganze ? - nun, es ist für mich eine völlig ehrliche Auseinandersetzung mit mir selbst. Noch dazu in großartiger Natur. Und ich habe mehr als gelernt: das, was ich als Grenze wahrnehme und körperlich mit jeder Faser spüre, die mir in den Haxen und sonst an diesem Punkt weh tun, das ist alles nur eine Illusion. An dem vorläufigen Punkt, an dem es nicht mehr geht, tun zwar die Beine real weh, aber dennoch ist das nur eine Grenze im Kopf und im Bauch, nicht real physisch. Hinter dieser Grenze liegt beim Weitermachen noch sehr viel mehr.
- Zwischen der Grenze im Kopf und einer realen Grenze durch Erschöpfung liegen für mich Welten. Für mich würde ich eine Grenze überschreiten, wenn ich die Situation nicht mehr kontrollieren könnte. Wenn ich torkeln oder phantasieren würde. Wenn ich den Ernst einer Lage nicht mehr überreißen könnte. Wenn ich nicht mehr wüste, wo ich bin - oder wer ich bin. wenn ich nicht mehr wüsste, wie ich an diesen Punkt gekommen bin.
- Inzwischen finde ich es gut, mit Abbrüchen beim Laufen umzugehen. Einen Abbruch "muss man können", denke ich im Moment. Grenzen auszuloten und zu überschreiten macht für mich Sinn und gibt Befriedigung. Aber nicht um jeden Preis. Und nicht, weil ich oder jemand anderer es vorher festgelegt hat. Es gibt einen "Ticker" bei mir, der "mitläuft". Ähnlich wie bei Abfahrten mit dem Rennrad, wenn es nach meinem subjektiven Empfinden zu schnell wird und ich die Bremsen zuziehe, so gibt es auch beim Laufen einen Punkt, an dem es reicht. "Es ist gut, wenn es gut ist".
- Um mit seinen Grenzen umgehen zu können, muss man sie kennen. Um sie zu kennen, muss man sie ausloten. Um sie auszuloten, muss man "es tun". Um "es zu tun" muss man die "Komfortzone" auf dem Sofa verlassen und den "Arsch hochkriegen". Um "den Arsch hochzukriegen" braucht es einen Willen, eine Motivation. Wie WERNER SONNTAG schreibt eine "intrinsische" Motivation, vor allem bei Ultras. (Eine Motivation, die aus dem Inneren kommt und nicht durch äußere Anreize entsteht. Äußere Anreize sind "Anerkennung" und "Preise", "Urkunden" oder "Berichte".)
- Ich bin auch ohne Laufen der Überzeugung, dass viele Menschen ihre Grenzen nicht kennen. Wie gut ich meine eigenen kenne sei mal noch dahin gestellt. Aber ich glaube, die Welt wäre tatsächlich ein besserer Ort, wenn wir unsere Grenzen besser kennen würden und nicht permanent über unsere Verhältnisse leben würden.
Ein gutes, neues Jahr uns allen !